Jun 13 2011
Kann ein Buch helfen, aus dem Elternhaus auszuziehen?
Erwachsen werden ist nicht leicht.
Wie wichtig dabei die innere Ablösung von den Eltern ist, habe ich in meinem ersten Buch beschrieben. Meist ist dabei der Auszug aus dem Elternhaus hilfreich. Aus vielerlei Gründen:
- Wenn sonntags um vierzehn Uhr noch die Rollläden unten sind, klingelt niemand an der Tür.
- Beim Guinness-Weltrekord, wie viele Pizzakartons in eine Küche passen, ist man in der Spitzengruppe.
- Auf die Frage, ob man glaube, dass so viel Fernsehen gesund sei, braucht man keine originelle Antwort.
Doch all das geht nur, wenn man in einer kilometermäßig sicheren Entfernung vom Elternhaus seine neue Bleibe hat. Denn elterliche Kontrollüberfälle mit der Begründung „Wir waren gerade in der Nähe“ werden unglaubwürdig, wenn man achtzig Kilometer entfernt wohnt.
In diesem Zusammenhang hat mich eine Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) vom April 2011 aufgeschreckt:
– über 50 Prozent der Befragten hatten eine Bleibe, die weniger als 10 km vom Elternhaus lag.
– Einer von vier Ausziehenden betrachtet eine Distanz von 2 km als Auszug.
– Jeder Zehnte brauchte keinen Umzugswagen, da die Eltern weniger als 500 Meter „entfernt“ wohnen.
Interessant sind die Unterschiede bei den Nestflüchtern und Nesthockern.
- Je höher die abgeschlossene Schulausbildung ist und je mehr Geld der Familie zur Verfügung steht, umso weiter ziehen die jungen Leute weg.
- Mädchen sind insgesamt mutiger bei der räumlichen Distanz, auch unabhängig von Abschluss und Finanzen. Es sei denn, es handelt sich um alleinerziehende Mütter.
- Vor allem in den neuen Bundesländern verbleiben viele junge Männer trotz teilweiser schlechter Berufschancen in der Nähe der Eltern.
- Junge Frauen aus dem Osten dagegen wandern dagegen verstärkt ab, was einen gravierenden Männerüberschuss in dieser Altersklasse zur Folge hat.
Wirtschaftsforscher sehen dieses Thema des Auszug aus dem Elternhaus natürlich streng ökonomisch. Sie glauben, dass Kinder einer einfachen Kosten-Nutzen-Analyse folgen. Kosten und Nutzen beziehen sich hierbei auf finanzielle Mittel, aber auch Möglichkeiten des Studierens oder Arbeitens, der Wunsch nach Privatsphäre oder einer gemeinsamen Wohnung mit dem Partner und der Möglichkeit des schnellen Kontakts zu den Eltern.
Als Psychologe sehe ich die Frage des Auszugs erwachsener Kinder etwas anders. Und zwar unter dem Aspekt der Ablösung.
Ein zuweilen schwieriger Prozess – für beide Seiten. Das erwachsene Kind muss sich von seinen Eltern lösen und sich einen eigenen Platz im Leben suchen, um sich dort niederzulassen. Die Eltern müssen das Kind loslassen und sich wieder mehr der eigenen Beziehung zuwenden. Ist die Paarbeziehung intakt, fällt es den Eltern naturgemäß leichter, den erwachsenen Sohn oder die erwachsene Tochter ziehen zu lassen.
Als Eltern gratuliert man sich, dass man das meiste richtig gemacht hat und freut sich auf gemeinsame freie Zeit. Getreu der Weisheit des alten Rabbi, der gefragt wurde, wann denn nun das Leben beginne: bei der Zeugung, bei der Geburt oder wann?
Der Rabbi antwortete:
Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind
und der Hund tot ist.
Ist die Paarbeziehung jedoch halbtot und kann auch nicht wiederbelebt werden, liegt es nahe, an den Kindern festzuhalten, um wenigstens etwas „Leben in der Bude“ zu haben.
Erfahrungsgemäß kann ein Kind, das sich innerlich der Beziehung zu den Eltern sicher fühlt, eher das Haus verlassen. Kinder, die einen unsicheren Bindungsstil erlebt haben, fällt es schwer, das Weite zu suchen. Sie verharren oft unbewusst im Nest, gleichsam um sich der Bindung zu den Eltern zu vergewissern.
Eine andere Art der Vermeidung der Ablösung ist die Flucht.
Da strebt man schon ganz früh möglichst weit weg von zu Hause. Manchmal mindestens 300 Kilometer weit weg, weil man „endlich frei atmen“ möchte.Auch wenn in 100 Kilometer Entfernung eine gute Uni oder Arbeitsstelle warten würde.
Die Enge in der Beziehung will man abschütteln, möglichst weit hinter sich lassen. Gleichzeitig aber auch sicher sein, dass einen die Eltern nicht sonntags zum Kaffeetrinken überfallen. Und auf die seltenen Besuche daheim mahnend angesprochen, kann man mit der Ausrede „Ich würde Euch ja auch gern sehen aber 600 Kilometer hin und zurück ist einfach zu weit“, auf Verständnis hoffen.
Doch fehlende Ablösung von den Eltern oder den Kindern hat ihren Preis, den man immer in der Paarbeziehung zahlt. Entweder leben die Eltern nur noch als Wohngemeinschaft, bis eventuell einer durch eine Affäre entdeckt, dass das Leben – und die Sexualität – doch noch nicht vorbei ist. Oder der junge Erwachsene erlebt es in der Paarbeziehung, dass ein zu enger Kontakt zu den eigenen Eltern fast immer Schwierigkeiten mit sich bringt.
Das ist das Thema meines ersten Buches „Frauen wollen erwachsene Männer“. Es geht darum, welche Folgen es in der Partnerschaft hat, wenn es der Mann nicht schafft, sich angemessen von seiner Mutter, manchmal auch vom Vater, zu lösen. Die häufigsten Folgen sind:
- die Mutter des Mannes mischt sich zu sehr in die Partnerschaft ein
- der Sohn traut sich nicht, seiner Mutter angemessene Grenzen zu setzen
- der Mann verhält sich auch in der Partnerschaft wie ein verwöhnter Sohn
- der Mann überträgt die Mutterrolle auf seine Partnerin und wehrt sich beispielsweise gegen ihre kontrollierende Art
- die Schwiegertochter wird ausgegrenzt und der Partner steht nicht zu seiner Frau
- die Sexualität des jungen Paares schläft ein und man mutiert zur funktionierenden Wohngemeinschaft
Jetzt erscheint bald das Taschenbuch.
Vom Erfolg meines Buches, das ja eine sehr spezielle Thematik beschreibt, waren Verlag, Lektorin und nicht zuletzt der Autor ziemlich überrascht. Umso mehr freue ich mich, dass Ende August, der Titel sogar als Taschenbuch herauskommt.
Hier können Sie 29 Rezensionen darüber lesen.
Hier können Sie es vorbestellen.
Meine Antwort auf die Eingangsfrage: aus etlichen E-Mails und Leserzuschriften weiß ich, dass das Buch einem deutlich machen kann, was vorher nur ein diffuses Unbehagen war, das man sich nicht erklären konnte. Handeln muss man natürlich selber.
Und dafür gilt der Satz: „Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.“
Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Auszug aus dem Elternhaus?
PS: Wenn Ihnen dieser Beitrag gefiel, dann sagen Sie es doch bitte weiter: auf Facebook, Twitter oder per Email.
… oder schreiben Sie einen Kommentar.
… oder abonnieren Sie neue Beiträge per Email oder RSS.
Foto: © Annika Loewe – Fotolia.com
Also ich bin mit 24 von zuhause ausgezogen. Mir fiel es nicht schwer aber meiner Mutter schon. Ich denke das ist besonders hart für alleinerziehende Elternteile…
Hallo Herr Kopp-Wichmann,
vor einigen Wochen habe ich mir Ihr Buch gekauft und fand es absolut lesenswert. Ein Bekannter jedoch, es wäre wohl eher ein Buch zum Verschenken. 😉
Nach 5 1/2 Jahren Beziehung – davon ca. 2 Jahre Zusammenleben, trenne ich mich von meinem Lebensgefährten. Ich bin ziemlich hart mit mir ins Gericht gegangen, musste dann aber auch schmerzlich feststellen, dass mein Lebensgefährte (48) die Sorte Mensch ist, die man als ‚Mamasöhnchen‘ bezeichnen kann. Natürlich gehören immer zwei zu einer Trennung – it takes two to tango …
Den Umzug zurück zu seiner Mutter fand ich im ersten Moment gar nicht so tragisch, bis mir nach und nach ein Licht aufging. Heute muss ich nur noch leise schmunzeln wenn mein Ex im ‚Wir‘ von seiner Mutter und sich spricht…
Leider stand diese Sorte Männer bisher nicht auf meiner No-Go-Liste…
Ein großes Kompliment an Ihr Buch – wer den leisen Verdacht hat, auch diese Sorte Mann zu Hause auf dem Sofa zu haben, unbedingt kaufen!
Ja, leider ist die Trennung oft der einzige Weg, denn Muttersöhne haben selten eine Problemeinsicht.